Marcel Friederichs beim Training des Schwertes im Tai Chi Chuan

Tai Chi Chuan – Snake-Style der Yang-Familie

Ursprünge des Tai Chi Chuan

Die Ursprünge des Tai Chi Chuan liegen wegen unzureichend historisch belegten Schriften verborgen. Einer Legende nach soll ein daoistischer Mönch namens Zhang Sanfeng aus den Wudang-Bergen die Kampfkunst entwickelt haben. Seine Existenz ist allerdings nicht belegt. Erste historisch belegte Ursprünge lassen sich beim Chen-Stil im 17. Jahrhundert ausmachen. Damals und bis ins 21. Jahrhundert wurden die vollständigen Lehren der Familie traditionell immer nur innerhalb der Familie weitergegeben. Dies sicherte die Überlegenheit der "Eingeweihten". Erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde das Tai Chi Chuan an einen Außenstehenden weitergegeben – Yang Luchan (1799 - 1872). Er entwickelte sein Tai Chi weiter und gründete somit den zweiten (von fünf) Familienstilen: Der Yang-Stil war geboren.


Yang-Stil

Yang Luchan – Begründer des Yang-Stils (Yeung Tai Chi Chuan / Tai Chi Chuan)
Yang Luchan (1799 - 1872)
Begründer des Yang-Stils

Yang Luchan, der 18 Jahre lang von der Familie Chen gelernt hatte, kam schließlich zu großer Berühmtheit durch seine Kampffähigkeiten – er erhielt den Namen "Yang der Unbesiegbare". Aufgrund seines herausragenden Könnens wurde er Kampfkunstlehrer am kaiserlichen Hof der Verbotenen Stadt. Eine Anekdote über ihn erscheint besonders interessant:
”Eines Tages, als er in einem See fischte, schlichen sich zwei Kampfkünstler heran, in der Hoffnung, ihn in den See stoßen und so seine Reputation ruinieren zu können. Sobald er ihre Absicht erkannte, rundete Yang seine Brust und vollführte die Technik „High Pat on Horse“ (dem Pferd über die Mähne streichen). So wie sein Rücken sich bog und der Kopf sich nach vorne neigte, prallten die beiden Angreifer ab und fielen selbst ins Wasser. Yang sagte, er würde es ihnen diesmal noch durchgehen lassen, aber wenn sie an Land kämen, würde er sie härter bestrafen. Die beiden Angreifer schwammen schnell davon.”
Hervorzuheben ist hier die Beschreibung der außergewöhnlichen Bewegung von Brust und Rücken, ein besonderes Kennzeichen des Yang-Stils, das bei Ip Tai Tak (s.u.) deutlich wiederzuerkennen war.
Über die zweite Generation der Yang-Familie – zwei von Luchans Söhnen erlangten ebenfalls große Berühmtheit – wurde das Tai Chi Chuan unter anderem an Yang Chengfu (1883 - 1936) weitergegeben. Chengfu machte durch seine Unterrichtstätigkeit das Tai Chi Chuan der Yang-Familie der Öffentlichkeit bekannt. Inwieweit dieses Tai Chi, das bis heute das Bild von Tai Chi weltweit prägt, die vollständige Lehre der Yang-Familie ist, bleibt umstritten.


Yang-Stil in Hongkong

Yang Sau Chung und Ip Tai Tak führen Anwendung von Schwerttechniken im Tai Chi Chuan (Taijiquan) vor
Yang Sau Chung und Ip Tai Tak führen Anwendungen von Schwerttechniken vor. © Bob Boyd

Yang Sau Chung (1910 - 1985), der schon ab dem Alter von 8 Jahren im Tai Chi Chuan unterrichtet wurde, floh 1949 wegen der politischen Unruhen in China nach Hongkong, wo er bis an sein Lebensende unterrichtete. Sein erster "Disciple" (Familien- / Meisterschüler) war Ip Tai Tak (1929 - 2004), der 27 Jahre lang mit ihm trainierte. Im Verhältnis zur Verbreitung des Tai Chi weltweit, blieb Ip Tai Tak eher unbekannt – er widmete seine freie Zeit dem Training und der Vertiefung des Tai Chi Chuan. Erst in seinem Ruhestand, er arbeitete für die Verwaltung Hongkongs, unterrichtete er einige Schüler bei sich zu Hause. Nichtsdestotrotz war er berüchtigt für seine Fähigkeiten im Pushhands (externer Link zu Youtube), eine Form der Partnerübungen im Tai Chi Chuan.


Bob Boyd im Tai Chi Chuan (Taijiquan) Unterricht von Ip Tai Tak
Bob Boyd im Privatunterricht
von Ip Tai Tak. © Bob Boyd

Bob Boyd / Bao Tak Fai – sechste Generation

Ip Tai Tak hatte zwei Disciples, die sein umfassendes Wissen, das er von der Familie Yang erhalten hatte, erhielten: John Ding (London) und Bob Boyd (Burlington). Großmeister Ip Tai Tak eröffnete Bob Boyd, als er ihn zum Disciple ernannte, die gesamte Lehre, die ihn zu dem überwältigenden Kampfkunstmeister gemacht hatte, der er war. Er erklärte ihm, dass das System der Familie Yang zur Selbstverteidigung auf dem Snake Style basiere und die sogenannte "Long Boxing Form" (eine Choreographie, die schneller als das übliche Tai Chi Chuan ausgeführt wird), das Qigong der Yang-Familie und das Pushhands notwendig für das kämpferische Können seien. Bevor Großmeister Ip starb, gab er Bob Boyd die Erlaubnis, mit der Familientradition der Geheimhaltung, wie sie seit Anbeginn gegolten hatte, zu brechen. Boyd verfolgt seitdem den Auftrag, das Wissen, das er von Ip Tai Tak im Unterricht und in seinem Nachlass erhalten hat, zu entwickeln und öffentlich zu unterrichten.

Genau diese Eigenschaften Bob Boyds machen ihn zu einem großartigen Meister dieser Kampfkunst: Sein Bestreben, sein Tai Chi Chuan im ständigen Training zu verbessern und seine Erkenntnisse unverfälscht und auf die für ihn typische offene Art zu teilen.